Als der Verband mich in die DDR schickte

30 Jahre Mauerfall – Ein sehr persönlicher Rückblick

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 Brandenburger Tor 1989 kurz vor Maueröffnung
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Brandenburger Tor 1989 kurz vor Maueröffnung

von Dr. Ulrich Goldschmidt, DFK – Verband für Fach- und Führungskräfte

Berliner Mauer am 12. November 1989 (aus Richtung West-Berlin gesehen)
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Im Sommer 1990 unternahm ich für den damaligen VDF – Verband der Führungskräfte (Vorläufer des DFK – Verband für Fach- und Führungskräfte) meine erste Dienstreise in die DDR. Auf dem Beifahrersitz neben mir saß Alfred Wagner, DDR-Bürger und vor allem Leipziger. Bei der Grenzkontrolle kam die zu erwartende Aufforderung, die Ausweispapiere vorzuzeigen. In diesem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass meine Papiere in der Reisetasche im Kofferraum verstaut waren. Mit schlimmen Befürchtungen erklärte ich der DDR-Grenzerin entsprechend kleinlaut und mit Entschuldigung, wo sich mein Ausweis befand. Und dann kam die Reaktion, mit der wir nicht gerechnet hatten. Die Grenzerin zog kurz die Augenbrauen hoch und sagte: „Nu, dann fahren Sie mal. Aber beim nächsten Mal wieder dran denken.“ Der lakonische Kommentar meines Beifahrers: „Das haben Sie zum Teil Ihrem West-Kennzeichen zu verdanken, zum größten Teil aber uns Leipzigern.“ Der Stolz in der Stimme war nicht zu überhören. In den nächsten Stunden unserer Fahrt nach Leipzig erfuhr ich von Alfred Wagner mehr über die DDR, das Leben in diesem Teil Deutschlands, die Montagsdemonstranten und den Mauerfall als in den 30 Jahren zuvor. Ich merkte, dass ich mein Weltbild gründlich überdenken musste. Bislang hatte ich hinter der Mauer nur das System DDR gesehen. Es war an der Zeit, die Menschen kennenzulernen.

Die DDR war für mich Ausland, bis ich die Menschen kennenlernte

Wie viele andere meiner Generation (Jahrgang 1958) hatte ich die DDR nie als Teil Deutschlands kennengelernt. Die DDR war für mich immer Ausland gewesen – finsterstes Ausland. Für jemanden, der nicht gerade familiäre Bindungen in die DDR oder Kontakte über die Kirchengemeinde hatte, beschränkte sich die Beziehung darauf, dass in der Schule in der Vorweihnachtszeit für DDR-Familien „Care-Pakete“ mit Rosinen, Schokolade und Orangen gepackt wurden. Wohin die Pakete in der DDR gingen, war weitgehend unklar. Letztlich hätte es für uns Schüler keinen Unterschied gemacht, ob das Paket in die DDR, nach Nord-Korea oder Belgisch-Kongo gegangen wäre.

Ansonsten begegnete man der DDR allenfalls noch bei sportlichen Großereignissen, bei denen aber der Verdacht des Staatsdopings immer in der Luft hing, was die Sympathiewerte schon einschränkte. Als hätten wir im Westen nicht … Meine Zeit als Fernmeldeaufklärer in der Bundeswehr hellte mein Bild von der DDR auch nicht auf. Der Feind stand halt im Osten. Und dass die dort stationierten sowjetischen Truppen mit NVA-Unterstützung regelmäßig Elbüberquerungen übten, die wir über den Funkverkehr mitanhören konnten, war nun auch nichts, um freundliche Gedanken zu wecken. Wegen meiner hohen Sicherheitseinstufung bei der Bundeswehr durfte ich jahrelang nicht über die Transitautobahn nach Berlin reisen. Als dies später wieder möglich war, führten so manche Spaziergänge in Berlin an die Mauer und vermittelten das bedrückende Gefühl des Eingesperrtseins. Was dahinter lag, war fremd, abweisend und feindlich. Als Westler wurde einem schon bei der Durchreise nach Berlin das deutliche Gefühl vermittelt, auf DDR-Gebiet unerwünscht zu sein.

Und dann begannen im September 1989 in Leipzig die Montagsdemonstrationen mit dem Ruf „Wir sind das Volk.“ Am 9. Oktober 1989 wurde daraus die erste Massenkundgebung in Leipzig. Die Menschen ließen sich auch von Stasi-Gewalt und willkürlichen Verhaftungen nicht mehr aufhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich erst wenige Monate zuvor meine Tätigkeit im VDF aufgenommen. Dass die Demonstrationen einmal zur deutschen Wiedervereinigung führen könnten, war zumindest für mich auf dem heimischen Sofa vorm Fernseher zu diesem Zeitpunkt außerhalb jeder Vorstellung. Als ebenso sensationell habe ich es empfunden, dass schon am 9. November 1989 die Grenze geöffnet wurde. Spätestens jetzt musste jedem klar sein, dass wir an einem Wendepunkt der Geschichte standen. Ausgelöst von zunächst nur wenigen mutigen Leipziger Bürgern.

„Young Man, Go East!“

Der damalige Hauptgeschäftsführer des VDF, Dr. Eberhard Behnke, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits sehr hellsichtig erkannt, dass sich hier etwas entwickelte, bei dem auch ein Verband der Führungskräfte gefordert sein würde. Und es war faszinierend zu erleben, wie schnell mit Hilfe unserer Verbandsmitglieder im Westen Kontakte zu Fach- und Führungskräften in den DDR-Kombinaten und Volkseigenen Betrieben hergestellt werden konnten. Das waren Geschäfts- und Messekontakte, aber auch familiäre Beziehungen und nicht zuletzt kollegiale Beziehungen wie im grenznahen Salz- und Kalibergbau, wo aus sicherheitstechnischen Gründen Vermessungen, Planung und Umsetzung von Abbaubetrieben unter Tage ständig wechselseitig abgestimmt werden mussten.

Der VDF-Vorstand folgte dem Rat von Eberhard Behnke, sich frühzeitig in Ostdeutschland zu engagieren. Noch heute bin ich unendlich dankbar dafür, dass er mir die Chance gab, als junger Mensch gemeinsam mit ihm das Projekt „VDF-Ost“ anzugehen. Und so hieß es 1990 für mich: „Young Man, Go East!“

Meine ersten Eindrücke von der DDR waren, dass wunderschöne Städte durch negative Umwelteinflüsse mehr oder weniger dem Verfall preisgegeben waren. Zugleich aber sah man, wie sich die Menschen in einer staatlichen Mangelwirtschaft diesem Verfall entgegenstemmt hatten und zumindest im Privaten mit erstaunlichem Einfallsreichtum Versorgungsmissständen begegneten. Aber auch der Industrie merkte man natürlich an, wie unterschiedlich die Startbedingungen in Ost und West nach dem 2. Weltkrieg waren. Während die Alliierten im Westen den Boden für das Wirtschaftswunder bereiteten, wurde der Osten Deutschlands vom großen sozialistischen Bruder Sowjetunion regelrecht ausgeplündert. Eine meiner ersten Dienstreisen führte mich gleich ganz weit in den Osten, zum Braunkohlekraftwerk Lübbenau-Vetschau. Der dortige Kraftwerksleiter ließ es sich nicht nehmen, mir eine Privatführung durch das Kraftwerk angedeihen zu lassen. Für das Alter des Werks machte es einen erstaunlich guten Eindruck, merkte ich dann auch an. Daraufhin erklärte mir der Kraftwerks-Chef, dass das auch kein Wunder sei, weil kein Teil mehr im Originalzustand sei. Man habe alles sukzessive ersetzt und jedes Ersatzteil selbst hergestellt bzw. aufbereitet. Mal eben einen Bestellzettel für ein neues Turbinenteil abzuschicken, sei halt nicht möglich gewesen. In der Folgezeit habe ich mehrfach solch meisterhafte Ingenieurleistungen in der DDR bewundern können, aber eben auch abstruse Auswüchse der mangelhaften Planwirtschaft kennengelernt. So z.B., wenn der größte DDR-Produzent von Tagebautechnik neben seinem Kerngeschäft zugleich auch Autositze und Gartenliegestühle herstellen musste.

Lebensleistungen würdigen

Das alles stellt aber keinesfalls die Lebensleistung der Menschen in der DDR in Frage. Ganz im Gegenteil nötigt es einem den allergrößten Respekt ab, was trotz Mangel- und Planwirtschaft möglich gemacht wurde. Im Beruflichen ebenso wie im Privaten. Die Lebensleistung von Menschen lässt sich nicht einfach als Bruttoinlandsprodukt abbilden. Zur Einschätzung dieser persönlichen Lebensleistungen gehören eben auch die Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen in einem Überwachungs- und Willkürstaat nach Vorgabe der Stasi gelebt und gearbeitet haben. Und niemand, der das nicht selbst erlebt hat, sollte sich auf das hohe Ross schwingen und ein Urteil darüber fällen, dass nicht 16 Millionen DDR-Bürger jederzeit für den Umsturz gekämpft haben oder zumindest von Anfang an bei den Montagsdemonstrationen in der ersten Reihe marschiert sind. Hätte ich Anwerbe- oder Erpressungsversuchen der Stasi widerstanden? Hätte ich darauf verzichtet, im System eines Unrechtsstaates Karriere zu machen? Nun, meine Hand würde ich dafür sicher nicht ins Feuer legen.

Wer den Überwachungsstaat DDR nicht selbst erlebt hat, sollte mit Urteilen aus seiner bequemen Komfortzone heraus vorsichtig sein. Ich selbst habe nur noch Rest­erscheinungen davon erfahren. Wenn man in einem Braunkohlekombinat zur Übernachtung in einem Arbeiterwohnblock in einer Wohnung für „West-Besuch“ einquartiert wird und für die Nacht den Hinweis bekommt, man solle mal davon ausgehen, dass die Wohnung noch verwanzt sei, ist auch das schon bedrückend. Wenn man zur Besprechung in der Zentrale eines Energie-Kombinats ist und plötzlich das Gespräch erstirbt und man selbst durch einen beherzten Tritt gegen das Schienbein unter dem Tisch zum Schweigen gebracht wird, nur weil die Chefsekretärin eintritt, macht das schon nachdenklich. Diese Dame war vorher nämlich die Sekretärin des früheren Kombinats-Chefs, der inzwischen aber wegen seiner Stasi-Tätigkeit abgesetzt war. Die Stasi-Seilschaften im Hause funktionierten aber weiter, und die Sekretärin war für diese die wichtigste Informantin. Für mich waren das nur Einzelerlebnisse der Nachwendezeit. Für die DDR-Bürger war das 40 Jahre lang „Normalität“, in der man sich einrichten musste, um ein Leben in Würde führen zu können.

In vielen, vielen Gesprächen, die ich in der DDR mit den dortigen Menschen, mit Fach- und Führungskräften führen durfte, habe ich nie Ressentiments gegen mich als „Wessi“ gespürt, sondern hatte immer das Gefühl, willkommen zu sein. Und das nicht nur, wenn ich mal wieder in Thüringen oder Sachsen ziemlich orientierungslos an einer Straßenkreuzung stand und nach dem richtigen Weg suchte. Hilfe und Rat waren immer in der Nähe. Bewegend in meinen Gesprächen war, dass wir immer gemeinsam das Empfinden hatten, jetzt gerade etwas Historisches mitzuerleben, was man mit hoher Wahrscheinlichkeit nur einmal in seinem Leben miterleben und mitgestalten darf. So etwas führt Menschen zusammen. Es war eine große Offenheit dafür zu spüren, was dann kommen sollte. Die meisten wussten sehr genau, dass nicht alles großartig werden konnte und ganze
Industriebereiche abgewickelt würden. Aber was immer wieder als die wichtigsten Punkte und Werte genannt wurde, waren die Freiheit, speziell die Reisefreiheit, und die Auflösung der Stasi, die sich wie Mehltau über Staat und Gesellschaft gelegt hatte. Es war trotz aller Unsicherheiten fast überall ein allgemeines Aufatmen zu spüren. Viele hofften auch auf neue berufliche Entfaltungsmöglichkeiten, mit besserer Ausstattung in den Betrieben. Für mich waren diese Gespräche wertvoll, weil sie mir die Menschen nähergebracht haben. Ich habe diese Menschen schätzen gelernt, habe von ihnen gelernt und ihre Lebensleistungen bewundert.

Meine größte Hochachtung gilt noch heute denen, die den unfassbaren Mut aufgebracht haben, in Leipzig trotz konkreter Bedrohung durch die Stasi auf die Straße zu gehen und nicht nur „Wir sind das Volk!“ zu rufen, sondern auch: „Stasi raus!“ Wer von uns im Westen hätte diesen Mut aufgebracht?

Das alles wusste ich noch nicht, als ich mit Alfred Wagner auf dem Weg nach Leipzig war. In Leipzig angekommen, hatte ich schon einiges dazugelernt. Noch mehr war zu lernen. Von den Menschen, die mir geholfen haben, vieles besser einzuordnen. Davon zehre ich noch heute. Der Erste, der mir den Blick auf die Menschen in der DDR ermöglichte, war Alfred Wagner. Kurz darauf wurde er der erste Vorsitzende der neuen VDF-Bezirksgruppe Leipzig und hat immens viel für den Verband bewegt.

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