Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in neueren Entscheidungen geurteilt, dass bestimmte Umstän­den erhebliche Zweifel an einer Erkrankung begründen und damit den Beweiswert ärztlicher Atteste erschüttern können. Hierauf basiert auch eine interessante Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 05.08.2023, AZ: 5 Sa 12/23.

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Sachverhalt der Entscheidung
Der Kläger war bei der Beklagten als Dozent tätig. Er war 2021 und 2022 mehrfach mit Atemwegsinfektionen er­krankt. Zudem befand er sich einige Tage in Quarantäne.

Am Freitag, 29.04.2022, übergab der Kläger gegen Nachmittag dem Geschäftsführer der Beklagten seine Eigenkündigung mit Wirkung zum 31.05.2022.

Am selben Abend gegen 19 Uhr suchte die Vorgesetzte des Klägers diesen auf und forderte die betrieblichen Gegenstände heraus.

Am Montag, 02.05.2022, ging der Kläger zu seiner Hausärztin, und diese erteilte ihm zunächst bis zum 13.05.2022 und später bis zum 31.05.2022 jeweils eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die ärztliche Diagnose waren F45.9 G (somatoforme Störung) und F48.0 G (Neurasthenie). Am 01.06.2022 begann der Kläger dann eine neue Dozententätigkeit bei einem Konkurrenzunternehmen.

Nachdem die Forderung des Klägers gegenüber der Be­klagten nach Zahlung seiner Vergütung für Mai 2022 und Urlaubsabgeltung erfolglos blieb, reichte er Klage ein.

Die Beklagte beantragte die Klage abzuweisen. Dabei führte sie an, dass sie erhebliche Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe, denn die Kranken­zeiten entsprächen der Kündigungsfrist. Auch seien die früheren Erkrankungen anzurechnen, da eine durchge­hende Grunderkrankung vorliege.

Das ArbG Schwerin gab der Klage statt und ging von einer neuen Erkrankung im Mai 2022 aus. Anzeichen einer Fortsetzungserkrankung haben nicht vorgelegen.

Die Beklagte legte dagegen Berufung ein. Das LAG wies die Berufung zurück.

Rechtliche Einschätzung
Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG haben Arbeitnehmer sechs Wochen Anspruch auf Entgeltfortzahlung, sofern eine unverschuldete krankheitsbedingte Arbeitsver­hinderung vorliegt.

Im Rahmen des § 3 EFZG gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast, wonach zunächst der Arbeit­nehmer zum Beispiel durch Vorlage der ärztlichen Be­scheinigung darlegen muss, ob eine Arbeitsunfähigkeit besteht und es sich um eine Fortsetzungserkrankung oder um eine neue Erkrankung handelt.

Das BAG hat in neueren Entscheidungen den Beweis­wert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei Vorlie­gen besonderer Indizien kritisch beziehungsweise als erschüttert angesehen. Dies gilt etwa, wenn einer ers­ten Arbeitsverhinderung eine mit „Erstbescheinigung“ attestierte weitere Arbeitsunfähigkeit folgt und diese bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich unmit­telbar aufeinanderfolgen oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt (so BAG, Urt.v. 11. 12.2019, AZ: 5 AZR 505/18).

Ebenso sieht das BAG den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert an, wenn zeitgleich mit der Eigenkündigung auch ein ärztliches Attest mit einer exakt der Kündigungsfrist entspre­chenden Arbeitsunfähigkeitsdauer vorgelegt wird (sie­he BAG, Urt.v.08.09.2021, AZ: 5 AZR 149/21).

Auf den ersten Blick scheinen daher die Tatsachen, dass der Kläger nahezu während der gesamten Kündigungs­frist erkrankt war und er eine neue Beschäftigung als Dozent direkt nach Ablauf der Kündigungsfrist antrat, Zweifel an einer tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit auf­kommen zu lassen.

Auf den zweiten Blick kommen jedoch weitere Tatsa­chen zum Tragen, die eine andere Bewertung zulassen. So hatte sich der Kläger nicht bereits am selben Tag seines Kündigungsauspruchs arbeitsunfähig krank gemeldet und auch keinerlei Anzeichen eines zuküftigen Fernbleibens gegeben. Insbesondere ist jedoch der Umstand, dass seine Vorgesetzte ihn noch am Tag des Kündigungsauspruchs außerhalb der Arbeits­zeit abends zu Hause aufsuchte und die betrieblichen Gegenstände zurückforderte, bei der Beurteilung rele­vant. Dieses ungewöhnliche Vorgehen spricht durchaus für eine dadurch beim Kläger entstandene Stresssitua­tion. Dass sich dann Krankheitssymptome wie Ängste, Übelkeit oder Schlafstörungen bei ihm zeigten und eine Rückkehr zum Arbeitgeber seiner Genesung entgegen­stand, dürfte jedenfalls nachvollziehbar sein.

Dass der Kläger seine neue Stelle einen Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung antrat, ergeben keine erheblichen Zweifel. Die Erkrankung des Klägers im Mai 2022 beruhte auf der besonderen Stresssituation im Zusammenhang mit seiner Kündigung und dem Vorgehen seiner Vorge­setzten. Diese belastende Situation änderte sich am 01.06.2022 mit seinem Ausscheiden und dem Antritt der neuen Stelle bei einem anderen Arbeitgeber.

Fazit
Die Entscheidung verdeutlicht noch einmal, dass Art der Erkrankung und die besonderen Umstände ganz genau im Einzelfall zu betrachten sind. Dabei gilt der Grundsatz, dass einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert für eine vorliegen­de Arbeitsunfähigkeit zukommt. Es müssen schon er­hebliche Zweifel vorliegen, um diesen Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.

Diana Nier, DFK-Ressortleiterin Nationale Politik & Public Affairs

Über die Autorin
Diana Nier ist Verbandsgeschäftsführerin und leitet das DFK-Hauptstadt-Büro in Berlin. Sie ist Rechtsan­wältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht. Diana Nier betreut die Regionalgruppen Berlin/Brandenburg und Sachsen/Thüringen und leitet das #DFKFrauennetzwerk sowie die nationale Politik des DFK.

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