Corporate Karma – Warum Compliance allein keine Lösung ist

von Prof. Dr. Volker Römermann

Volker Römermann
© Römermann

Es ist Sonnenaufgang an einem Schlagbaum im Balkan, als der LKW-Fahrer mit seiner Terminladung in eine penible Zollkontrolle gerät. Schnell wird ihm klar, dass es ausschließlich darum geht, fadenscheinige Gründe zur Beanstandung zu finden. Dem Fahrer schwant: Ohne eine „kleine Gefälligkeit“ kommt er aus der Falle nicht heraus.

Bakschisch? Die Compliance-Richtlinie verbietet jede Form von Bestechung – egal wie viel, egal wo und egal unter welchen Umständen. Doch die Zeit ist knapp, und endlich, gegen neun Uhr, erreicht der Fahrer den Compliance-Officer in der Zentrale, der sich konsequent zeigt: Bestechung ginge auf keinen Fall. Wenn er das genehmigte, käme er selbst in Teufels Küche. Der Fahrer würde schon eine Lösung finden. 

Die findet er notgedrungen, und 200 € aus der Spesenkasse wechseln diskret ihren Besitzer. Nicht zuletzt, weil dem Fahrer eingeschärft wurde, dass man sich auf die termingerechte Ankunft zu 100 % verlassen würde. Der bleibt am Ende, als schwächstes Glied in der Kette, auf seinem Schaden sitzen. Reicht er den Betrag zur Erstattung offiziell als Bestechungsgeld ein, muss er mit dem vollen Sanktionsprogramm bis zur Kündigung oder Strafanzeige rechnen. Hätte der Compliance-Chef in der Zentrale nicht „menschlicher“, „verständiger“ handeln können? Absolut nicht, auch er ist dem vollen Risiko ausgesetzt. Fakt ist: In einem solchen Fall existiert für keinen der Beteiligten eine gute Lösung.

Die rechtliche Frage („Ist Bestechung erlaubt?“) ist noch am einfachsten zu beantworten. Jenseits dessen fällt eine Antwort auf die Gretchenfrage schwerer: Ist es fair, einen Mitarbeiter sehenden Auges in eine Situation zu schicken, in der es für ihn keine Lösung gibt, während das Management formal auf der sicheren Seite ist? Was wäre hingegen, wenn man die Bestechung als Spesen verbuchen und den Angestellten glattstellen würde? Ein klarer Rechtsverstoß. heute offiziell undenkbar. Ist es folglich – für den Exportweltmeister Deutschland! – die einzige Lösung, dass sich Unternehmen aus Ländern, die für Korruption bekannt sind, komplett zurückziehen?

Harte Normen werden zunehmend als unzureichend empfunden

Das moralische Dilemma des LKW-Fahrers erklärt, warum viele Menschen die puristische Anwendung von Normen zunehmend unzureichend finden. Oft entsteht reale oder gefühlte Ungerechtigkeit, die ein flexibleres Herangehen wünschen lassen. Schnell wird der Ruf nach Fairness laut. Aber wie sähe diese aus, wenn das gesetzliche Verbot jede Verletzung unbarmherzig bestraft?

Der amerikanische Philosoph John Rawls hat sich erstmals 1958 in seinem Aufsatz „Gerechtigkeit als Fairness“ darüber Gedanken gemacht. Für Rawls ist Fairness nicht als Gnade anderen gegenüber, sondern als Akt des Eigeninteresses zu verstehen.

Wendet man Rawls Prinzip an, handelte Lance Armstrong nicht aus Mitgefühl, als er bei der Tour de France 2001 auf den gestürzten Jan Ulrich gewartet hat, sondern, weil er ein Prinzip für richtig hielt, von dem er hoffen durfte, dass es eines Tages auch ihm zugutekäme. Im Jahr 2003 kam es zur Revanche: Als Armstrong beim Aufstieg in den Bergen einen Zuschauer touchierte und zu Fall kam, verzichtete sein Kontrahent auf einen Angriff. Statt Tempo zu machen, ließ er den Gestürzten aufschließen, um am Ende erneut von ihm distanziert zu werden.

Was faire Unternehmen gewinnen und unfaire verlieren

Ein wichtiger Aspekt in der Wahrnehmung fairen Verhaltens ist Freiwilligkeit. Wer sich nur unter Zwang zur Fairness bequemt, schadet sich unter Umständen sogar. Unternehmen hingegen, die sich aus freien Stücken fair zeigen, steigen in der Achtung von Kunden, Geschäftspartnern und anderen Stakeholdern, treffen auf gewogenere Verhandlungspartner, erhalten bessere Konditionen und machen im Idealfall lukrativere Geschäfte. Wissenschaftler nennen dies das „Prinzip der Reziprozität“ oder einfacher: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Das unfaire Gegenteil wirkt nicht weniger kräftig. Als United Airlines vor einigen Jahren die 3.500 Dollar teure Gitarre des Countrysängers David Carroll beschädigte und den Schaden nicht regulierte, stellte Carroll verärgert einen Song mit dem Titel United Breaks Guitars bei YouTube ein, der zum PR-Desaster für die Airline wurde. Bis heute wurde das Video über 19 Mio. Mal aufgerufen. Korrektes Verhalten wäre für United eindeutig billiger gewesen.

Auch nach innen sind unfaire Unternehmen mit Nachteilen konfrontiert. Fühlen Mitarbeiter sich gut behandelt, legen sie hohe Arbeitszufriedenheit, starkes Engagement sowie Vertrauen in die Führung und kooperatives Arbeitsverhalten an den Tag. Ist das Gegenteil der Fall, greifen emotionaler Rückzug, innere Kündigung, gehäufte Fehlzeiten und Widerstand bei Veränderungen um sich. Schlimmer noch: Studien belegen, dass Mitarbeiter, die sich auf Dauer unfair behandelt fühlen, über psychosomatische Symptome hinaus ein größeres Herzinfarktrisiko tragen als andere. 

Compliance, Kodex, Fairness – die drei Handlungsrahmen

Fairness ist nur einer von mehreren ethischen Handlungsrahmen, in die Unternehmen gestellt sind. Die Gesetzgebung ist der zweite und der Deutsche Corporate Governance Kodex mit seinem Geltungsdrang der dritte. Zwar ist der Kodex ohne Gesetzeskraft nicht verbindlich, wird jedoch von Gerichten in der Fallauslegung als Maßstab ordentlichen Geschäftsgebarens herangezogen.  

Bevor sich ein Unternehmen auf eine „faire“ Lösung einlässt, sollte es sicher sein, gegen die stärkeren Handlungsrahmen nicht zu verstoßen. Die berühmte „Portokasse“, aus der der LKW-Fahrer entschädigt wird, ist vor diesem Hintergrund kein gangbarer Weg, selbst wenn für manche gefühlt ein Hauch von Fairness mitschwingt.

In der Regel lassen Gesetze wenig bis keinen Spielraum, was in ihrem Sinne „fair“ ist. Beim Kodex erweitert sich dieser Korridor, und bei der Fairness scheint er ausgesprochen breit. Weil Menschen jedoch in einer Art kognitiver Verzerrung dazu neigen, besonders Ereignisse zum eigenen Vorteil als fair zu betrachten, entsteht leicht der Eindruck von Beliebigkeit. Überdies verfügt vielfach jede der beteiligten Konfliktparteien über gute Argumente für ihre Position. Sich dabei auf seine salomonische Intuition zu verlassen, ist keine gute Option. Denn auch der Entscheider ist in seinen ethischen und sozialen Dispositionen und damit Vorurteilen gefangen.

Konkrete Kriterien – warum Fairness mehr als ein Bauchgefühl ist

„Fairness“ leitet sich aus dem altenglischen Wort „Faegerness“ ab, das unter anderem „schön anzusehen“ heißt. Passend spüren Menschen, die faires Verhalten zeigen und erleben, ein oft erhebendes, berührendes Gefühl. Diese starken Emotionen sollten aber nicht dazu verleiten, Fairness ausnahmslos als diffuse Intuition zu verstehen. Entsprechend unterscheidet Jerald Greenberg die drei Formen der prozeduralen, distributiven und interaktionalen Fairness: 

  • Die distributive Fairness betrifft den Verteilungsschlüssel: Werden Güter und Vorteile nach Leistung vergeben, nach dem Prinzip der Gleichheit oder nach individueller Bedürftigkeit?
  • Die interaktionale Fairness bezieht sich auf den Umgang mit Personen (interpersonal) und Informationen (informational). Respektvoller Umgang und geteilte Kommunikationsstandards werden mit aktiver und transparenter Informationspolitik gepaart. 
  • Die prozedurale Fairness zielt direkt auf gerechte Entscheidungen, die im Idealfall unter Abwägung aller möglichen Argumente nachvollziehbar sind.

Gerald S. Leventhal ergänzt Greenbergs Arbeit und unterteilt die prozedurale Fairness in sechs Aspekte: 

  • Konsistenz: Für alle gilt das Gleiche
  • Neutralität: Unvoreingenommenheit des Standpunkts
  • Akkuratheit: Auf Basis genauer Informationen
  • Revidierbarkeit: Mit der Möglichkeit, Fehler rückgängig zu machen
  • Ethik: Entsprechend persönlicher oder geteilter Wertvorstellungen
  • Repräsentativität: Die Bedürfnisse und Meinungen aller sind berücksichtigt

Diese Aspekte sind nicht nur eine Auflistung, sondern können als natürliche Checkliste verwendet werden, ob eine Entscheidung fair getroffen wurde. Auf ihrer Basis kann konstruktiv argumentiert und diskutiert werden.

Der Spirit der Fairness. Corporate Karma als Erfolgsfaktor

Fairness ist weitaus mehr als blauäugiger Altruismus oder ein diffuses Bauchgefühl. Ihr liegen dieselben Prinzipien zu Grunde, die ein gutes Gesetz auszeichnen. Sie fügt keine neuen Prinzipien hinzu, sondern überträgt belastbare Kriterien auf einen Bereich, der ansonsten eher unscharf und volatil anmutet.

Gelingt Unternehmen die manchmal schwierige Abgrenzung zu geltendem Recht in der Compliance und anerkannten Verhaltenskodizes, wird Fairness nach innen und außen zu einem greifbaren Erfolgsfaktor – zu einer Art Corporate Karma, das nach dem Prinzip der Reziprozität von der Umwelt positiv vergolten wird. Wenn machiavellistisch agierende Unternehmen auf der anderen Seite nach der Maxime „nach mir die Sintflut“ leben, dürfen sie sich nicht wundern, irgendwann von ihren Fluten eingeholt und hinweggespült zu werden. 

Prof. Dr. Volker Römermann ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG und als Experte und Berater bzw. Vertreter insbesondere im Gesellschaftsrecht, Insolvenz­recht und im Recht der freien Berufe bekannt. Er hält eine Honorarprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin und berät namhafte Unternehmen in Fragen der Compliance. Als Certified Speaking Professional (CSP) und Präsident der German Speakers Association (GSA) hält er als Vortragsredner Keynotes und Referate zu Themen des Wirtschaftsrechts, der Künstlichen Intelligenz und der Fairness in Unternehmen.

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