Diversity als Standortfaktor

Was hat Vielfalt mit Nachhaltigkeit zu tun?
Ana-Cristina Grohnert,
Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt

Der Mensch im Mittelpunkt
In vielen Unternehmen werden diese (eigentlich gar nicht so) neuen Herausforderungen noch separat be­trachtet und sind in unterschiedlichen Bereichen an­gesiedelt: Während sich HR um Diversity kümmert, ist Nachhaltigkeit in der CSR-Abteilung, im Einkauf oder in der Produktentwicklung verortet. Dabei gibt es einen engen Zusammenhang beider Punkte – und sie können sich nur gegenseitig befruchten, wenn sie intelligent verzahnt werden.

Denn Diversity und Nachhaltigkeit verfolgen den glei­chen Grundgedanken: Sie stellen den Menschen in den Mittelpunkt, das Individuum und die Menschheit als Ganzes.

Diese Fokussierung auf den Menschen sollte eine Selbstverständlichkeit jedes wirtschaftlichen Han­delns sein. Seit jeher haben Menschen gearbeitet, et­was angepflanzt, produziert oder Dienstleistungen er­bracht, um sich und der Gemeinschaft zu dienen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hat Konrad Adenauer ge­sagt: „Die Wirtschaft soll dem Menschen dienen, nicht der Mensch der Wirtschaft.“

Diese Erkenntnis ist in den vergangenen Jahrzehnten irgendwie verloren gegangen. Kurzfristige Gewinnma­ximierung wurde über die Sicherheit der Menschen und die Interessen der Gesellschaft als Ganzes gestellt. Die Folgen sehen wir nun in Flutkatastrophen, Waldbrän­den und einer schwindenden Artenvielfalt.

Die Bequemlichkeit begrenzter Perspektiven
Unternehmen oder die Volkswirtschaft verwendet haben, sind nicht mehr zeitgemäß. Wer nur reproduziert und das beste­hende Geschäftsmodell optimiert, ist nicht langfristig zukunftsfähig.

Wer nur reproduziert und das bestehende Geschäftsmodell optimiert, ist nicht langfristig zukunftsfähig.

Die Corona-Krise, aber auch das Aufbegehren junger Menschen gegen den Klimawandel wirken wie Kata­lysatoren: Sie beschleunigen den Niedergang dieser Art von Unternehmensführung. Etablierte Geschäfts­modelle stehen plötzlich vor dem Aus. Zielgruppen ent­wickeln neue Bedürfnisse und hinterfragen die gesell­schaftliche Verantwortung von Unternehmen. Firmen, die ihren Mitarbeitenden außer einem Gehalt und einem sicheren Arbeitsplatz keinen Mehrwert bieten können, finden keine Fachkräfte mehr.

Eine neue Perspektive erfordert Vielfalt
Diese Entwicklungen zeigen, dass eine neue und dras­tisch erweiterte Perspektive erforderlich ist, um auch langfristig erfolgreich am Markt agieren zu können. Nur: Wo soll diese Perspektivenerweiterung herkommen, wenn man mit den gleichen Menschen in den gleichen Konferenzräumen auf die gleichen Power-Point-Charts starrt?

Dieser „Mindshift‘ ist nur möglich durch Vielfalt. Wer neue Wege gehen will, braucht verschiedene Persön­lichkeiten, Erfahrungsschätze, Temperamente und Be­gabungen. Oder anders gesagt: Monokulturen sind ein Hochrisikozustand – im Management wie in der Forst­wirtschaft. So wie der deutsche Wald jetzt internatio­nale Verstärkung durch klimaresistente Bäume wie die japanische Lärche oder den amerikanischen Hickory-Baum braucht, so benötigen Führungsetagen jetzt eine möglichst diverse Zusammensetzung.

Nur mit Vielfalt ist die Komplexität der heutigen Wirt­schaftswelt zu meistern. Weil sie der Komplexität an Herausforderungen eine Komplexität an Lösungsmo­dellen gegenüberstellt.

Vom Shareholder Value zum Stakeholder Value
Und diese erweiterte Perspektive ist nur mit Diversität möglich, wenn die Potenziale jedes Einzelnen einbezo­gen und genutzt werden. Vielen Unternehmen ist gar nicht klar, über welchen Schatz sie verfügen! Wichtige Entscheidungen oder Innovationsprojekte werden ex­klusiv von einem kleinen Kreis von Führungskräften oder so genannten High Performern angegangen – und das Potenzial der übrigen Mitarbeitenden bleibt unge­nutzt! Darauf spielt der Titel meines Buches „Das verborgene Kapital‘ an.

Der ganze Mensch
Übrigens geht es bei Diversity nicht nur darum, mög­lichst gemischte Teams aufzubauen. Sondern auch da­rum, die Vielfalt jedes Individuums anzuerkennen und zu nutzen. Jeder Mitarbeitende hat ein Leben außer­halb der Arbeitsstelle. Er oder sie ist Elternteil, Partner in einer Liebesbeziehung, Mitglied in einem Buchclub, passionierter Tischtennisspieler, Feuerwehrfrau, Men­tor, Hockeytrainerin, Fluthelfer oder Investorin. Unter­nehmen sind gut beraten, sich klarzumachen, dass sie den ganzen Menschen bekommen, wenn sie jemanden einstellen, und sich nicht nur einen Zeitanteil pro Tag „herausschneiden‘ und den Rest ignorieren sollten. Auch hier schlummert jede Menge „verborgenes Kapi­tal‘ – und kluge Führungskräfte wissen das fruchtbar zu machen!

Diversity als Erfolgs- und Standortfaktor
Diversity wird in vielen Unternehmen noch als Hygie­nefaktor begriffen: Man muss da jetzt irgendwie mit­machen, weil sich sonst die jungen Zielgruppen abwen­den oder man keine Nachwuchskräfte mehr gewinnen kann. Es gehört zum guten Ton, jetzt auch neudeutsch „woke‘ zu sein, und die Presseabteilung freut sich, dass sie etwas Positives zu kommunizieren hat. Haken da­hinter und jetzt wieder zurück zu den wirklich wichtigen Themen.

Ich bin aber überzeugt, dass Diversity ein Erfolgs­faktor beziehungsweise ökonomisch notwendig ist. Eine Analyse von Deloitte aus dem Jahre 2018 belegt dies mit Zahlen. Unter dem Titel „The rise of the social enterprise‘ definiert das Papier drei Erfolgsfaktoren für Unternehmen: Mitarbeiter*innenengagement, Kund*innenzufriedenheit und Innovationskraft. Für alle drei Bereiche ermittelt die Unternehmensberatung massive Steigerungsraten durch ein erfolgreiches In-klusionsmanagement diverser Teams. In diesem Fall sei es dreimal wahrscheinlicher, dass Mitarbeitende zu Höchstleistungen fähig sind, sechsmal wahrschein­licher, dass das Unternehmen innovativ arbeitet, und eine positive Kund*inneninteraktion sei sogar achtmal wahrscheinlicher.

Jedes Unternehmen braucht verschiedene Optionen, um erfolgreich zu sein. Und die stehen nur dann zur Ver­fügung, wenn wir nicht zehn weitestgehend gleich so­zialisierte Menschen miteinander diskutieren lassen.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und Diversity nicht nur zum Erfolgs-, sondern zum Standortfaktor erklären. In der klassischen Wirtschaftslehre gilt die Rohstoffversorgung als Standortfaktor. Aber die Roh­stoffe der Vergangenheit sind nicht die Rohstoffe der Zukunft. Die Rohstoffe der Zukunft sind Ideen, Gedan­ken und Wissen. Je vielfältiger sie sind, desto umfas­sender sind unsere Handlungsoptionen, desto größer ist unser Innovationspotenzial und desto erfolgreicher und attraktiver ist unser Standort.

Über die Autorin
Ana-Cristiana Grohnert ist Managerin, Unternehme­rin und Autorin. Nach Positionen als Personalvorständin der Allianz und Managing Partner*in bei EY ist sie nun als Vorstandsvorsitzende der „Charta der Vielfalt‘ für Gleichberechtigung und ein neues Ver­ständnis von wertschöpfendem und wertschätzen­dem Wirtschaften engagiert.

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