Führen in Gemeinschaft

Interview Dr. Gerald Hüther und Prof. Dr. Timo Meynhardt

Dr. Gerald Hüther und Prof. Dr. Timo Meynhardt (links) beim 3. Leipziger Leadership Talk

Im Vorfeld des 3. Leipziger Leadership Talks, der von der Leipzig Graduate School of Management und dem DFK – Verband für Fach- und Führungskräfte veranstaltet sowie der BMW Group Werk Leipzig gesponsert wurde, fand ein Interview mit Prof. Dr. Timo Meynhardt, Lehrstuhlinhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL, und Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung, statt.

Im Leipzig Leadership Talk an der HHL geht es um das „Führen in Gemeinschaft“. Herr Hüther, was meinen Sie damit?

Hüther: Unsere gesamte Lebenswelt, auch die Arbeitswelt, wird durch die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung erheblich vielschichtiger, vernetzter und komplexer als bisher. Das führt nicht nur zu einer zunehmenden Verunsicherung vieler Menschen, auch Führungskräfte spüren immer deutlicher, dass die Zeiten vorbei sind, in denen es einem Einzelnen noch möglich war, alles zu überschauen, tragfähige Lösungen zu finden und optimale Entscheidungen zu treffen. Dazu reicht heute das Wissen, die Erfahrung und das Können einzelner Personen nicht mehr aus. Das Zeitalter der Einzelkämpfer ist also vorbei. Jetzt geht es nur noch weiter, wenn auch Führungskräfte ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen miteinander verbinden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen und diese dann auch gemeinsam umsetzen. „Etwas mehr Hirn, bitte“ meint nicht, dass sich Einzelne noch mehr anstrengen sollen, sondern dass fünfmal so viel Wissen, so viel Erfahrung und so viel Kompetenz in eine Entscheidung einfließt, wenn sie von fünf Personen getroffen wird, die ein gemeinsames Anliegen verfolgen. Eine solche Entscheidung ist dann auch in jeder Hinsicht umsichtiger und günstiger als alles, was ein Einzelner allein zu entscheiden vermag.

Dr. Gerald Hüther
Dr. Gerald Hüther

„Führen in Gemeinschaft“ hat sicher etwas mit Einstellungen und Werten zum Thema Gemeinschaft und Gemeinwohl zu tun. Inwiefern gibt es da regionale Besonderheiten zwischen den alten und neuen Bundesländern?

Meynhardt: Ja, die unterschiedlichen Erfahrungsmuster spielen für diesen stärker gemeinschaftsorientierten Führungsansatz eine wichtige Rolle. Nach unseren Erkenntnissen aus dem GemeinwohlAtlas 2019 sind die Ostdeutschen wirtschaftsfreundlicher und staatskritischer. Sie stehen den privatwirtschaftlichen Unternehmen positiver als die Menschen in den alten Bundesländern gegenüber. Gleichzeitig hadern sie stärker mit den öffentlichen Einrichtungen. Die Ostdeutschen sind auch eher bereit, Unternehmen zu bestrafen, wenn sie dem Gemeinwohl schaden. Westdeutsche sind dagegen stärker als Ostdeutsche der Meinung, dass sie durch ihr eigenes Verhalten Einfluss auf das Gemeinwohl ausüben können. Hinter diesen Unterschieden steht ganz sicher auch ein anders gewachsenes Verständnis von Gemeinschaft und Gemeinwohl, dass gerade in Ostdeutschland bisher zu wenig selbstbewusst als Stärke genutzt wird.

Hüther: Ich kann das aus meiner Erfahrung nur bestätigen. Die Orientierung am Gemeinwohl, die Bereitschaft, gemeinsam nach tragfähigen Lösungen zu suchen und Verantwortung für etwas mehr als nur für das eigene Wohlergehen zu übernehmen, waren bei den Menschen in der DDR stärker ausgeprägt. Genau hier schlummern Potenziale der Menschen in Ostdeutschland, die bisher noch gar nicht zur Entfaltung gekommen sind.

Was meinen Sie genau damit?

Hüther: Für mich zählt dazu alles, was aus den Erfahrungen der Bürger hier nach der Wendezeit erwachsen ist: ihre selbsterworbenen Kompetenzen bei der Gestaltung tiefgreifender Veränderungen, ihre Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung bei der Bewältigung schwieriger Umgestaltungsprozesse, aber auch das tief verwurzelte Bedürfnis, gemeinsam nach tragfähigen Lösungen zu suchen, und die Fähigkeit, eigene Interessen konstruktiv mit einem gemeinsam verfolgten Anliegen zu verknüpfen.

Meynhardt: Ich meine auch, wenn es gelingt, diese Potenziale zu entfalten, ist der Osten für den nächsten Strukturwandel bestens aufgestellt, insbesondere wenn ich an die Folgen der Digitalisierung und natürlich auch den Kohleausstieg denke. Ich möchte noch ein Beispiel nennen: Der allgegenwärtige materielle Mangel hat die Menschen in der DDR erfinderisch gemacht, pragmatische Lösungen zu finden und nach anderen Maßstäben guten Lebens zu suchen. Diese Kompetenz ist aktueller denn je! Es ist auch nicht zu unterschätzen, was in der DDR in Sachen alternativer (qualitativer) Wachstumsideen vorausgedacht wurde. So erscheinen heute die Ideen von Rudolf Bahro zu sozialökologischen Alternativen, die er dann Anfang der 1990er-Jahre auch gemeinsam mit dem damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf vertreten hat, wieder hochinteressant und verdienen Beachtung.

Nach unseren Erkenntnissen aus dem  GemeinwohlAtlas 2019 sind die Ostdeutschen wirtschaftsfreundlicher und staatskritischer

Was müssten denn die Ostdeutschen tun, um selbst diese Stärken bei sich wieder zur Entfaltung zu bringen?

Hüther: Tun müssen sie dafür nichts, es müsste ihnen nur endlich Gelegenheit geboten werden, sich für etwas einzusetzen, das ihnen allen gleichermaßen am Herzen liegt. Dann machen sie sich sehr wahrscheinlich von ganz allein gemeinsam auf den Weg, um das auch zu verwirklichen. So haben sie ja auch schon die Wende herbeigeführt und das damalige Herrschaftssystem zum Einsturz gebracht.

Und was können Führungskräfte tun?

Meynhardt: Sie sind gefordert, zunächst besser zu erklären, warum sie tun, was sie tun. In unserem Führungsmodell an der HHL stellen wir den Sinn und Zweck des Handelns auch in den Mittelpunkt der Ausbildung. Künftige Manager sollen lernen, von der Gesellschaft her zu denken. Das ist der Unterschied zum klassischen Führen über Ziele: Die eigenen Potenziale so entfalten, dass sie sich mit anderen zusammen zu einer gemeinsamen Idee, einem «Purpose», verbinden. Nur so kann es gelingen, persönliche Interessen mit dem Gemeinwohl in Beziehung zu setzen. Dass dieser Ansatz Früchte trägt, zeigt unsere Forschung und ist auch ein Teil dessen, was heute unter agiler Führung verstanden wird.

Sind die Zeiten der autokratischen Entscheidungen in Unternehmen vorbei bzw. sollten sie es?

Meynhardt: Nein, sie wird es immer geben, wo Menschen handeln. Aber: Die sozialökologische Notwendigkeit, nach Alternativen zu suchen, stellt sich dem autokratischen Ansatz immer mehr in den Weg. Vermutlich braucht es aber erst tiefere Krisen, um Neues zuzulassen und Experimente zu wagen.

Hierarchische Ordnungen funktionieren nur so  lange, wie die Welt noch einfach genug ist

Hüther: Autokratische Entscheidungen sind das Herrschaftsinstrument in allen hierarchisch geordneten sozialen Systemen. Befehle und Anweisungen immer schön von oben nach unten. Am besten schon im Kindergarten. Aber hierarchische Ordnungen funktionieren nur so lange, wie die Welt noch einfach genug ist. Solange die Lebens- und Arbeitswelt noch gut überschaubar und alles, was dort geschieht, noch hinreichend kontrollierbar ist. Diese Welt gibt es aber nicht mehr, und sie verändert sich in atemberaubendem Tempo weiter in Richtung zunehmender Komplexität und fortwährender Veränderung. Wer angesichts dieser Entwicklungen hofft, mit autokratischen Entscheidungen seine Interessen erfolgreich durchzusetzen, der müsste dafür sorgen, dass die Welt wieder einfacher und überschaubarer wird. Das dazu bisher eingesetzte Mittel war ein möglichst zerstörerischer Krieg.

Vielen Dank für Ihre Zeit!


Bild 1: © DFK – Verband für Fach- und Führungskräfte
Bild 2: © Franziska Hüther

Nach oben scrollen