„Anschnauzen war gestern“

Schwerpunkt Fußball

Interview mit Prof. Dr. Ralf Lanwehr

Prof. Dr. Ralf Lanwehr © Ralf Lanwehr
Prof. Dr. Ralf Lanwehr © Ralf Lanwehr

Ralf Lanwehr ist Professor für internationales Management an der FH Südwestfalen. Er konzentriert sich auf die Themen Führung, Strategie und Change, wobei er besonders Implikationen von zunehmender Quantifizierung, Digitalisierung und Informatisierung für die Unternehmensführung im Auge hat. Neben diesen ohnehin spannenden Themen, ist er aber einer der wenigen Professoren in Deutschland, der beispielsweise den Einsatz von Machine Learning im Recruiting und Talent Management von Profifußballvereinen untersucht. Der Experte für die Schnittstelle zwischen Fußball und Wirtschaft also. Dies bestätigen nicht nur seine zahlreichen guten Kontakte zu Vereinen aus der ersten und zweiten Liga. Auch zahlreiche Buchveröffentlichungen zum Thema sprechen für sich, wie etwa „Spielfeld Arbeitsplatz“ oder „Management für die Champions League“. Die große eigene Fußballkarriere blieb trotz seiner Zeit als Stürmer von Balane Inhambane in der dritten mosambikanischen Liga vollkommen verdientermaßen aus.

Die Wirtschaft kann ein paar Dinge vom Fußball lernen
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Herr Professor Lanwehr, ohne jetzt die üblichen Floskeln von Teamwork und Co. zu bemühen: Kann die Wirtschaft vom Fußball lernen?
Ja, die Wirtschaft kann durchaus ein paar Dinge vom Fußball lernen – allerdings in sehr eng begrenztem Rahmen. Andersherum kann und muss der Fußball viel mehr von der Wirtschaft lernen. Man darf nicht vergessen, dass die Kommerzialisierung – und damit verbunden die bisweilen absurd anmutenden Wachstumsraten – im Fußball noch nicht sonderlich alt sind. In den meisten Vereinen geht es an vielen Stellen noch sehr unprofessionell zu. Das ist ehrlich gesagt auch ein Stück weit sympathisch.

Wo kann die Wirtschaft lernen?
Die Wirtschaft kann überall dort lernen, wo die Prozesse im Fußball extremer oder intensiver sind. Auf meinem Gebiet sind das insbesondere Führung und quasi alle Personalmaßnahmen rund um die Profis. Beispielsweise Führung, weil das Feedback des Trainers an die Spieler so direkt, häufig und direkt leistungsbezogen ist. Wer sitzt auf der Tribüne? Wer spielt? Und Personalmanagement, weil die Fußballprofis so viel Geld verdienen, dass auch extrem aufwendige (oder sich eigentlich noch im Prototypenstadium befindliche) HR-Technologien mutig mit Blick auf etwaige Leistungssteigerungen ausprobiert werden können. In einem Bereich, wo wenige Prozent Steigerung den Unterschied zwischen Gewinnen und Verlieren ausmachen können, ist die Bereitschaft, neue Dinge auszuprobieren, eben manchmal höher.

In den meisten Vereinen geht es an vielen Stellen noch sehr unprofessionell zu
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Wo wir über Personal sprechen: Im Fußball hat man schon lange Erfahrung damit, Talente früh zu sichten und zu rekrutieren und ggfs. auszubilden. Kann das Vorbild für die Wirtschaft sein?
Da bin ich mir nicht so sicher. Das ist aus meiner Sicht stark branchen- und jobabhängig. Für besonders gesuchte Professionen kann das durchaus sinnvoll sein. Gerade sind Data Scientists und Elektrotechniker ja unfassbar rar. Generell glaube ich aber nicht, dass in der Wirtschaft ein solcher Aufwand betrieben werden sollte wie im Profifußball. Man darf nicht vergessen: Der durchschnittliche Profi der 1. Bundesliga verdient rund 2 Mio. im Jahr. Das ist zwar ein arithmetisches Mittel, das nach oben verzerrt ist. Den Median kenne ich nicht. Freiburg beispielsweise dürfte keinen oder in Petersen vielleicht nur einen Spieler haben, der die Millionengrenze knackt. Das Münchener Starensemble hebt mit seinen Wahnsinnsgehältern Freiburg und ein paar andere Vereine zusätzlich locker an den Schnitt. Es wird jedoch abgesehen von DAX-30-Vorständen und Investmentbankern kaum einen erlernbaren Beruf in der Wirtschaft geben, wo derlei Verdienstmöglichkeiten als Angestellter realistisch sind. Sollte ich mich irren, sagen Sie gerne Bescheid. Ich würde mich dann womöglich umorientieren.

Braucht die Wirtschaft – ähnlich dem Scouting im Fußball – eigene Abteilungen, die Scouting betreiben? Werden die großen Konzerne weggehen von der Idee, mit Employer Branding allein ausreichend Personal anzuziehen?
Nein. Siehe oben. Aufwand und Ergebnis stehen einfach nicht im richtigen Verhältnis zueinander. Alleine, was eine solche Abteilung an Kosten verursachen würde. Es rentiert sich kaum, etwa einen Programmierer in Brasilien zu scouten.

Außerdem: Neben den absurden Gehaltssummen, die die Profifußballer im Gegensatz zu Menschen in normalen Berufen einstreichen, kommt die „Wertsteigerung“ hinzu. Transfers im Fußball sind ja von großer Wichtigkeit und eine zentrale Einnahmequelle für viele Clubs. Es ist deshalb sogar unverständlich, weshalb sich im Fußball noch keine professionelleren Strukturen im Scouting gebildet haben. Das läuft noch überraschend stark ab nach Nasenfaktor und Adressbuch. Sie werden es mir womöglich nicht glauben, aber es gibt auch in Deutschland noch Clubs, die regelmäßig international spielen, aber über keinerlei ernst zu nehmendes Controlling im Scouting verfügen. Absolut verrückt. Das Scouting ist eine ganz eigene, abgeschottete Welt.

Unser Eindruck ist, dass der Fußball den Wandel vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt, den die Wirtschaft derzeit durchmacht, schon länger hinter sich hat.
Allerdings. Und das sehr schnell und ziemlich vollkommen. Hans-Joachim Watzke von Borussia Dortmund hat zwar angedroht, dass er sich von Top-Spielern in Zukunft nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen wird. Aber lassen Sie uns mal abwarten, wenn es um den Wechsel von Jadon Sancho geht.

Im Fußball gibt es ja Talentschulen, die sich unabhängig von Vereinen auf die Suche nach Talenten machen. Könnte das ein Vorbild sein – vielleicht auch für Hochschulen? Es kursiert ja auch immer wieder die Frage, ob Unternehmen Studierende früher rekrutieren sollten.
Diese Talentschulen gibt es meines Wissens in Deutschland noch nicht. Zumindest habe ich davon noch nicht gehört. Es gibt ca. 55 Nachwuchsleistungszentren in Deutschland und die Eliteschulen des Sports. Mehr kenne ich nicht. Das hat wenig mit dem zu tun, was Sie zum Beispiel aus Afrika kennen. Dort sind solche Talentschulen auch ein Mittel des sozialen Aufstiegs, oftmals der einzige Weg, um der Armut zu entkommen. Da wird – im wörtlichen Sinne – um ganz anderes gespielt.

Dass aber mittlerweile Unternehmen Studierende ganz anders rekrutieren als früher, ist definitiv so. Ich habe mich neulich erst Stein und Bein gewundert. Wer bei uns an der Hochschule einen Master in Elektrotechnik macht, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits einen Arbeitsvertrag in der Tasche und bekommt schon während des Masterstudiums einen Dienstwagen plus 1.000 € bis 1.500 € „Taschengeld“ pro Monat. So knapp sind die heutzutage. Das ist aber nicht nur bei uns so. Als ich das neulich einem hochrangigen Manager eines amerikanischen Techkonzerns erzählte, meinte der, dass das rund um deren Sitz in Baden-Württemberg auch so läuft. Insofern: Da passiert schon eine Menge. Ehrlicherweise fehlt mir darüber hinaus aber so ein bisschen der Überblick.

Braucht es dann vielleicht – wie Santos Acadmey, PSG Academy etc. – eigene Universitäten, um Top-Talente zu finden? Der Markt wird ja nur enger.
Das ist heute auch schon so. Die deutschen Großkonzerne haben interne Hochschulen oder bestehende Kooperationen. Meine Hochschule beispielsweise kooperiert intensiv mit mehreren DAX-30-Konzernen.

Wir sprachen ja über den Arbeitnehmermarkt. Zeichnet sich hier noch ein Paradigmenwechsel ab? Ist vielleicht das Ende von Employer Branding im Fußball schon gekommen? Denn auch Vereine, die offensichtlich keine starke Marke haben, schaffen es ja, Talente zu gewinnen. Man denke an Leipzig und Hoffenheim, die sicherlich beim internationalen Renommee nicht mit dem FC Bayern mithalten können.
Für den „Kunden“ – wenn man den Fan mal so nennen will – mag Ihre Annahme stimmen. Aber für die „Arbeitnehmer“, sprich die Fußballer, stellt sich das sehr anders dar. Von daher muss ich widersprechen.

Leipzig und Hoffenheim haben eine extrem starke Marke. Hoffenheim wird stärker mit technologischen Innovationen verbunden als jeder andere Verein zumindest in Deutschland. Und das übrigens auch ganz zu Recht. Ich habe gerade das Anfang März erst fertiggestellte, neue Instrument für das Training der sogenannten Exekutivfunktionen (vulgo: Spielintelligenz) gesehen: Das ist echt der Hammer, was die da mittlerweile zu Ausbildungszwecken an Technik stehen haben. Und in Leipzig wurde von Anfang an zentral thematisiert, dass junge Talente gezielt gefördert werden.

Zugegeben: Für Fußballtraditionalisten ist das alles vielleicht nicht der richtige Ansatz. Wenn ich aber ein Raketentalent wäre, würde ich heute mit Sicherheit nach Hoffenheim gehen. Nicht obwohl Hoffenheim keine starke Marke ist, sondern WEIL Hoffenheim zumindest in Expertenkreisen DIE Marke ist, die junge Leute nach vorne bringt. Wenn Sie sich anschauen, welche Transfererlöse Hoffenheim in den letzten Jahren mit der eigenen Jugendarbeit erwirtschaftet hat, wird Ihnen schwindelig. Alleine in der letzten Saison sind mit Joelinton, Amiri, Schulz und Deminarbay locker 110 Mio. Euro geflossen. Und das geht seit Jahren so.

Sie sprachen über Führung im Fußball. Viele Führungskräfte in der Wirtschaft tun sich schwer mit kritischem Feedback. Sie wiesen darauf hin, dass gerade Jugend- bzw. Nachwuchstrainer Spezialisten im Bereich kritisches Feedback sind. Und auch Spezialisten im Überbringen „schlechter Nachrichten“, weil es ja die wenigsten Spieler nach ganz oben schaffen. Im Ausbildungs- und Nachwuchsbereich wird man also zum Spezialisten für „schwierige Gespräche“? Sollte man (Nachwuchs-)Führungskräften empfehlen, da mal zu hospitieren? Was könnten Führungskräfte hier lernen?
So weit muss man vielleicht nicht gehen. Man kann da schon viel eher – und auch einfacher – ansetzen. Kritisches Feedback ist gut, wichtig und notwendig. Allerdings tendieren zu viele Führungskräfte zum schwäbischen Sprichwort „Nicht gemeckert ist Lob genug“. Wenn sich die Leute immer nur Kritik anhören müssen, haben sie irgendwann keine Lust mehr. Schlechte Leistungen fallen aber in den allermeisten Berufen nun mal leichter ins Auge. Die Psychologen nennen das „Salienz“. Wenn man da nicht bewusst gegensteuert, dann gerät die Beurteilung der Geführten schon mal in eine Schieflage.

Deshalb ein kleiner Tipp: Führen Sie eine Liste, in der Sie nur die Dinge aufführen, die gut gelaufen sind. Ich nenne das Prinzip „Excel +“ und habe es schon mit verschiedenen Profitrainern ausprobiert. Hat sich bewährt. Jede geführte Person bekommt in Excel ein eigenes Arbeitsblatt, und da tragen Sie bei guten Leistungen immer ein:

  1. Was ist gut gelaufen? (Nicht vergessen: Fehlerfreiheit über einen gewissen Zeitraum gehört in vielen Berufen – Buchhaltung, IT, Personal – übrigens zwingend dazu.)
  2. Wie habe ich das positiv begleitet?
  3. Wann war das?

Sie werden sich wundern, was einem da so alles durch die Lappen geht und das Bild womöglich verzerrt.

Offensichtlich gibt es Trainer, die es schaffen, ihre Mannschaft „anzuzünden“. Sofort denkt man etwa an Jürgen Klopp. Was kann die Wirtschaft da lernen? Der Schwur „11 Freunde sollt ihr sein“ ist es im Profifußball ja augenscheinlich nicht mehr. Jenseits der kurzfristigen Motivation vor dem Spiel muss ein Trainer ja auch langfristige Visionen haben. Und – wenn wir Sie richtig verstanden haben – mit diesen Visionen die Mannschaft so emotionalisieren, dass sie langfristig motiviert ist. Da kann die Wirtschaft sicher etwas lernen, oder?
Das berührt den Themenbereich der visionär-charismatischen Führung. Dabei handelt es sich um einen riesigen Bereich. Hinzu kommt, dass jeder Jeck anders ist und sich Patentrezepte wie „Excel +“ leider nicht immer ganz so einfach ableiten lassen.

Generell sind Charisma und visionäre Kraft aber nachweislich erlernbar. Es gibt ein gewisses Grundtalent, das individuell sehr unterschiedlich ist. Jürgen Klopp ist von Mutter Natur beispielsweise sehr großzügig damit bedacht worden. Aber es gibt sogenannte Charismataktiken, 16 empirisch nachgewiesene an der Zahl, die nachweislich die Charismawahrnehmung positiv beeinflussen. Man kann sie in die drei Gruppen „Deliver“ (Form der Übermittlung), Frame (Rhetorik) und Substance (Werte und Ziele) unterteilen.

Nicht jeder Mensch hat die gleichen Begabungen und Präferenzen. Aber sicherlich wird jede Person eine für sich persönlich passende Taktik finden und kann die ganz authentisch entwickeln. Und so ähnlich funktioniert das bei Visionen auch. Das ist deshalb so wichtig, weil die alten Machtinstrumente mittlerweile weitgehend ausgedient haben: Belohnung, Bestrafung und Hierarchie.

Wenn eine Führungskraft die Leute heute erreichen und mitnehmen möchte, muss sie das auf sanftere Weise tun. Sonst klappt der Wandel nicht. Leute anschnauzen war gestern, und das ist doch eigentlich sehr gut so.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

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