Kein einseitiger Abbruch

von Ruprecht Polenz

Seit einigen Jahren entfernt sich die Türkei in großen Schritten von der EU und ihren Werten: Hunderte inhaftierter Journalisten; Tausende nach dem Putsch Inhaftierter, die bis heute auf ihr Verfahren warten; Zehntausende, die ihre Anstellung an Universitäten, Schulen oder staatlichen Behörden verloren haben, ohne Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Entlassung gerichtlich überprüfen zu lassen. Der Konflikt mit den Kurden im Südosten des Landes ist wieder gewaltsam entflammt. Erdogan regiert von Tag zu Tag autoritärer. Die Verfassung, die er 2017 in einem Referendum durchgesetzt hat, hilft ihm dabei. Parlament und Justiz sind geschwächt. Die Macht ist beim Präsidenten konzentriert.

Keine Frage, die Türkei ist heute weiter von einem EU-Beitritt entfernt als vor zwanzig Jahren. Da erscheint es doch nur logisch, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen – zumal viele in Deutschland die Türkei nie in der EU haben wollten – trotz anderslautender Beschlüsse.

Man kann die Beitrittsverhandlungen beenden. Aber man sollte sich bewusst sein, dass man damit einen langen Weg der Türkei nach Europa beendet. Vor allem sollte man die Frage beantworten können: was dann? Denn die Türkei ist geostrategisch zu wichtig, um keine Türkeipolitik zu brauchen. Das gilt besonders für Deutschland, wo die Qualität der Beziehungen zur Türkei wegen vier Millionen türkisch-stämmiger Menschen in Deutschland unmittelbare Auswirkungen auf die Innenpolitik hat.

100 Jahre Türkei

In vier Jahren feiert die Republik Türkei ihren 100. Jahrestag. Ihr Gründer Kemal Atatürk wollte die Türkei 1923 zu einem europäischen Land machen. Er schaffte das Kalifat ab, gab dem Land eine Verfassung, führte das lateinische Alphabet ein, machte den Sonntag statt des muslimischen Freitag zum freien Tag in der Woche, ersetzte die islamische Zeitrechnung durch den gregorianischen Kalender und übernahm das Schweizer Zivil- und das italienische Straf­gesetzbuch. Die Scharia hatte ausgedient. Die Türkei verstand sich als laizistischer Staat.

Jeweils vor Deutschland wurde die Türkei 1949 Mitglied des Europarates und 1952 Mitglied der NATO. 1959 bewarb sie sich um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Das Ankara-Abkommen stellte der Türkei 1963 (!) diese Mitgliedschaft in Aussicht. 1996 wurde die Türkei durch eine Zollunion eng mit der EU verbunden. 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. „Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft“, heißt es in dem Beschluss.

Beendigung der Beitrittsverhandlungen?

Wegen dieser Vorgeschichte kommt m. E. eine einseitige Beendigung der Beitrittsverhandlungen nicht in Frage. Sie würde Erdogan die Schuld des Scheiterns abnehmen und sein ständiges Reden bestätigen, wonach „dieser Christenclub“ die Türkei nie habe aufnehmen wollen. Vor allem würde ein einseitiger Schritt jeden Neuanfang unnötig erschweren.

Denn das beiderseitige Interesse an möglichst engen Beziehungen bleibt ja bestehen. Jeder Blick in den Nahen Osten oder zum Kaukasus zeigt uns, wie wichtig es ist, dass sich die Türkei auf Europa hin orientiert.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass sich fast die Hälfte der Türken gegen den Kurs von Erdogan ausgesprochen hat und dass die EU durch die sog. Vorbeitrittshilfen Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft in der Türkei unterstützen kann. Das sollte nicht ersatzlos wegfallen.

Deshalb mein Fazit: kein Abbruch ohne gemeinsamen Start von etwas Neuem, das die Türkei dauerhaft an Europa bindet.

Ruprecht Polenz ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. Er war von 1994 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und zugleich von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Darüber hinaus war er von 1996 bis 2006 Präsident der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. Seit 4. November 2015 ist der Volljurist Polenz Sonder-Beauftragter der Bundesregierung im Dialog um den Völkermord an den Herero und Nama mit Namibia.

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