Die Entscheidung wurde als „Paukenschlag“, „Hammer“ und „bahnbrechend“ bezeichnet: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 13.9.2022 entschieden, dass Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet sind, die gesamte Arbeitszeit der Beschäftigten zu erfassen (Beschluss vom 13.9.2022, 1 ABR 21/22, Pressemitteilung 35/22). Diese Pflicht trifft die Arbeitgeber nach unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz. Hier ist geregelt, dass der Arbeitgeber zur Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ habe. Und das Gericht stellt nun klar, dass das auch die Erfassung der Arbeitszeit beinhaltet.
Geltung ab sofort
Da das Arbeitsschutzgesetz einen denkbar weiten Geltungsbereich hat, gilt nun auch die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für so ziemlich jeden Arbeitnehmenden, alle Tätigkeitsbereiche, jede Betriebsgröße, mit und ohne Betriebsrat – und zwar ab sofort. Das Urteil spiegelt die bereits geltende Rechtslage, deshalb muss nun jedes Unternehmen entsprechend reagieren. Dabei stehen sie vor vielen offenen Fragen.
Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice weiter möglich
Trotz anderslautenden Meldungen: Vertrauensarbeitszeiten und Homeoffice sind weiter möglich. Klar ist nun aber, dass der Arbeitgeber seiner Verpflichtung zum Arbeitsschutz auch in diesen Modellen nachkommen muss. Arbeitgeber müssen sich Gedanken machen, wie sie die Verpflichtung zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems umsetzen. Sich über den Mehraufwand aufzuregen nützt nichts: Die Arbeitszeiterfassung ist nun nach der Rechtsprechung aus Gründen des Gesundheitsschutzes geboten und wird ja auch bereits in vielen Unternehmen erfolgreich praktiziert.
Und die Leitenden Angestellten?
Und auch die Frage, ob die Leitenden Angestellten nun von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung erfasst werden, ist offen: Die Regelung des Arbeitsschutzgesetzes gilt für jeden Arbeitnehmer – ganz gleich, ob jemand Leitend i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG ist oder nicht. Bisher war der Leitende Angestellte nicht betroffen, da das Arbeitszeitgesetz keine Anwendung auf Leitende Angestellte findet (§ 18 Absatz 1 ArbZG). Legt man nun aber nun den weiten europarechtlichen Arbeitnehmerbegriff zugrunde, erfasst dieser auch Leitende Angestellte und möglicherweise sogar auch Fremdgeschäftsführer. Das hätte in der Tat (zu) weitreichende Folgen.
Der Politik zuvorgekommen
Mit alldem hat das BAG die Politik in vollem Tempo rechts überholt. Es bestand dringend Handlungsbedarf – und das BAG hatte offensichtlich jetzt keine Geduld mehr: Immerhin beantwortet das Urteil eine Frage, die mittlerweile über 3,5 Jahre unbeantwortet blieb. Zunächst gab es die EU-Richtlinie von 2003 und dann kam das berühmte „Stechuhr“-Urteil vom 14.05.2019 (C-55/18): Der EuGH hatte damals schon entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten gemessen werden kann – ein klarer Auftrag an die Politik, das Thema Arbeitszeiterfassung zu regeln. Trotzdem passierte nichts.
Die Politik lieferte trotz Ankündigung bisher nicht
Dabei erwähnte die Ampel-Koalition im Koalitionsvertrag ausdrücklich: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“ Und tatsächlich bereitete sie auch ein Gesetz zur Arbeitszeiterfassung vor. Doch bis heute sind die Unternehmen in Deutschland nicht allgemein zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet gewesen. Es gibt Ausnahmen, etwa für bestimmte Berufsgruppen oder Branchen. Darüber hinaus muss die Arbeitszeit nach § 16 Arbeitszeitgesetz dokumentiert werden, die an Sonn- und Feiertagen arbeiten oder die Überstunden machen – sprich mehr als acht oder in Ausnahmefällen zehn Stunden am Tag arbeiten. Eine allgemeine Pflicht bestand aber nicht.
Nun sind Fakten geschaffen
So warteten spätestens nach dem EuGH-Urteil im Jahre 2019 alle – vergeblich – auf die Gesetzgebung. Nun schafft das BAG Fakten und übernimmt die Argumentation des EuGH-Urteils: Zeiterfassung ist eine Maßnahme des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und muss folglich die gesamte Tages- und Wochenarbeitszeit der Beschäftigten umfassen. BAG-Präsidentin Inken Gallner sagte, dass die Zeiterfassung auch Schutz vor Fremd- und Selbstausbeutung sei. Der Arbeitgeberverband BDA kritisierte die Entscheidung als überstürzt und nicht durchdacht. Die Entscheidung dürfe nicht dazu führen, dass von den Beschäftigten gewünschte Systeme der Vertrauensarbeitszeit in Frage gestellt werden.
Nach dem Beschluss: Vorschläge zu Arbeitszeiterfassung angekündigt
Kurz nach dem BAG-Beschluss hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil endlich Vorschläge für eine Umsetzung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in Aussicht gestellt. Sein Ministerium werde aber den Beschluss und die Begründung des BAG dazu zunächst auswerten. Das Gesetz werde die Umsetzung so unbürokratisch wie möglich regeln und auch, wie die Arbeitszeit aufgezeichnet werden solle.
Aber was nun?
Arbeitgeber werden – falls nicht schon erfolgt – Systeme einzuführen haben, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit verlässlich erfasst werden kann. Und das eilt jetzt: Mit dem aktuellen Urteil könnten ansonsten Arbeitsschutzbehörden eingeschaltet werden und auch Betriebsprüfungen Unrechtmäßigkeiten zu Tage fördern. Gleichzeitig bleibt jedem Arbeitgeber ein gewisser Ermessensspielraum, wie er eine Erfassung der Arbeitszeit sicherstellt und vor allem welche „erforderlichen Mittel“ er hierfür zur Verfügung stellt. Viele Unternehmen haben solche Lösungen bereits pragmatisch und ohne großen Aufwand und mit den Sozialpartnern umgesetzt. Es gibt auch zukünftig Gestaltungsspielraum – jedoch nur über das „Wie“, nicht das „Ob“ der Arbeitszeiterfassung.
Gleichzeitig wird derzeit vieles arg übertrieben: Auf Selbstorganisation und Vertrauensarbeitszeit oder gar „New Work“ muss das Urteil keinen negativen Einfluss haben. Und ein Ende von flexiblen Arbeitszeiten bewirkt die BAG-Entscheidung auch nicht. Diese Prognosen sind Stand heute genauso falsch wie die Annahme, dass Vertrauensarbeitszeit dazu dienen würde, Mehrarbeit zu kaschieren und nicht vergüten zu müssen. Viele Vertrauensarbeitszeitmodelle machen es ja gerade möglich, Freizeitausgleich etc. zu nehmen. Die Modelle werden zukünftig andere Rahmenbedingungen haben – und sicherlich mehr Transparenz für alle.
Es bleiben eine Menge offene Fragen, wie die Arbeitszeiterfassung erfolgen kann oder z.B. ob der Leitende Angestellte nun erfasst wird oder nicht. Und vor allem auch, ob die Zeiterfassung auf die Arbeitnehmer delegiert werden kann. Bisher liegt nur eine magere Pressemitteilung des Gerichtes vor. Welche Auswirkungen das Urteil diesbezüglich im Detail für Unternehmen hat, ist noch unklar. So ist aber auch Schwarzmalerei fehl am Platz. Es ist zu hoffen, dass die Gründe des Urteils und dann spätestens das Gesetz diese Fragen rechtssicher für alle klärt. Mit genug Eigenverantwortung und Spielraum und gleichzeitig ausreichend Schutz für ArbeitnehmerInnen.