Chance und Herausforderung für gute Führung

Purpose zwischen Beitrag, Potenzial und Gemeinschaft

Magdalena Wallkamm und Julian Brands, HHL Leipzig Graduate School of Management, und Dr. Gerald Hüther, Akademie für Potenzialentfaltung

Magdalena Wallkamm

Purpose ist in aller Munde – Management Consultants propagieren ihn, Organisationen veröffentlichen zuneh­mend Purpose Statements, und erste Studien zeigen, dass Purpose Driven Organisations einen kompetitiven Vorteil aufweisen. Der Purpose einer Organisation be­antwortet die Frage nach ihrem grundsätzlichen Exis­tenzgrund sowie die Frage nach Wirkung, Beitrag und Nutzen des unternehmerischen Handelns. Die Dis­kussion um die gesellschaftliche Rolle und Relevanz von Unternehmen ist nicht erst seit Aufkommen der Covid-19-Pandemie im wirtschaftlichen Mainstream an­gekommen: So forderte Larry Fink, Aufsichtsrats- und Vorstandsvorsitzende von Blackrock, dem weltweit größten Vermögensverwalter, bereits Anfang 2018 die CEOs seiner investierten Unternehmen auf, den Purpo-se ihrer Organisationen zu schärfen und ihr Handeln ge­sellschaftlicher auszurichten. Ebenso stand zu Beginn des Jahres 2020 die Abschlusserklärung des Weltwirt-schaftsforums in Davos unter dem Leitmotiv Purpose.

Der Purpose einer Organisation beantwortet die Frage nach ihrem grundsätzlichen Existenzgrund sowie die Frage nach Wirkung, Beitrag und Nutzen des unternehmerischen Handelns.

Woher kommt diese Entwicklung, wo doch in den zurück­liegenden Jahrzehnten Management-Leitbilder eines ef-fizienzgetriebenen Optimierens des Shareholder Values im Vordergrund standen? Die Beweggründe sind (min­destens) zweigeteilt. Zum einen erscheint die Ausrich­tung auf einen Purpose durch das sich fortschreitend verändernde öffentliche Bewusstsein unternehmerisch geboten, da das Agieren von Unternehmen immer stär­ker mit Blick auf seine gesellschaftliche Relevanz be­wertet wird. Zum anderen beobachten wir auf der Ebene des Individuums einen sich verändernden Anspruch an Arbeit: Diese soll nicht nur dem Lohnerwerb dienen, son­dern auch das eigene Sinnerleben ermöglichen. Blicken wir in Organisationen hinein, sehen wir, dass der Purpose einer Organisation das Potenzial hat, Mit-arbeiter:innen eine Orientierung zu geben, ihren Hand­lungen Sinn zu verleihen, sie zu motivieren und für eine strategische Klarheit zu sorgen. Viktor Frankls berühm­tes Man’s search for meaning kann über den Purpose Beantwortung in der Arbeitswelt finden – der Einzelne erlebt sich als Teil eines großen Ganzen, leistet mit sei­ner Tätigkeit einen Beitrag und erfährt so Sinn in seiner Arbeit. Aus Studien wissen wir, dass ein als sinnstiftend wahrgenommener Purpose bei Mitarbeiter:innen einer Organisation Commitment und Motivation hervorrufen kann. In der Management-Ausbildung findet diese Per­spektive nicht erst seit Simon Sineks populärem Start with Why Einzug und wird oft zugespitzt auf ein „Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten“.

Also alles eine schöne neue Arbeitswelt? Nicht ganz. Würden Organisationen die Idee eines inspirierenden und verbindenden Organizational Purpose bereits vollumfänglich leben, läge die Vermutung nahe, dass sich das Erleben von Arbeit auch entsprechend trans­formiert hat. Betrachten wir bspw. die Gesamtheit der Unternehmen in Deutschland, zeigt sich zum Beispiel in Aspekten wie Motivation und Commitment empirisch wenig Verbesserung. Laut Gallup-Index 2018 haben le­diglich 15 % der Mitarbeitenden eine hohe Bindung zu ihrem Arbeitgeber – ein Wert, der seit 2002 konstant stagniert. Strategy8c zeigt in ihrer Studie, dass sich nur 28 % der Mitarbeitenden mit dem Purpose der Organisa­tion verbunden fühlen. Viel Potenzial scheint also unge­nutzt. Wo sind die Gründe zu suchen?

Julian Brands

Die Arbeit in Organisationen wird geprägt durch unser Verständnis von ihnen. Wir betrachten Organisatio­nen, ganz nach der Bedeutung der Wortherkunft (grie­chisch: órganon, deutsch: Werkzeug), oftmals noch rein funktionalistisch – als ein Mittel, um einen Zweck zu erfüllen, den ein Einzelner nicht leisten könnte. Dies zeigt sich auch in unserer Sprache: die Organisa­tion als gut geölte Maschine, in der Input und Output nach Effizienzaspekten optimiert werden; wir spre­chen davon, ein Projekt anzuschieben, Dinge zu be­schleunigen oder auch mal auf die Bremse zu treten. Re-Engineering, Up-Scaling und Downsizing stehen im Fokus des Management-Diskurses. Dieses mecha­nistische Verständnis von Organisationen führt dazu, dass in vielen traditionell hierarchisch geprägten Or­ganisationen der Einzelne vor allem in Hinblick auf sei­ne Rolle und Funktion betrachtet wird. Es gilt, vorge­gebene Aufgaben im Sinne des Job-Profils möglichst so zu erfüllen, wie es ein durch Hierarchie vorgegebe­nes Ideal verlangt. Doch Organisationen sind mehr als Orte der Aufgabenerfüllung: Es sind Orte der Kultur, wo Menschen mit ihren Bedürfnissen aufeinandertreffen und zueinander in Beziehung treten – eine einfache Erkenntnis, deren Umsetzung in der Unternehmens­welt aber nicht leicht scheint. Wir beobachten Orga­nisationen, in denen der Einzelne seine Potenziale nicht ausschöpft – und damit, um in der Sprechweise der klassischen Betriebswirtschaftslehre zu bleiben, im Kern für eine ineffiziente Organisation sorgt. Er­klärungen zur Problemursache wie auch Ansätze für dessen Lösung finden sich in der Kombination zweier Forschungsdisziplinen: der Neurobiologie und der Ma­nagementforschung.

Aus der Psychologie wissen wir: Menschen haben Be­dürfnisse und streben danach, diese zu stillen. Men­schen streben dabei sowohl nach Verbundenheit und Geborgenheit als auch nach Autonomie und Freiheit. Wenn diese Bedürfnisse verletzt werden, z.B. durch die Versetzung aus einem liebgewonnenen Team oder die fehlende Freiheit und Selbstverantwortung am Arbeitsplatz, ist dies nicht ohne Konsequenz. Moder­ne bildgebende Verfahren der Neurodiagnostik zeigen: Diese zwischenmenschlichen Verletzungen werden im Gehirn ähnlich erlebt wie körperlicher Schmerz oder die Dysfunktion eines Organs. Die innere Kündigung und fehlende Motivation sind keine seltenen Reaktionen auf diese Schmerzen. Dies verdeutlicht: Der Mensch ist ein verletzliches soziales Wesen. Die Neurobiologie zeigt auch: Wir streben als Menschen nach Kohärenz, nach Stimmigkeit. Wenn dieser Zustand gestört wird, verbrauchen die betreffenden Nervenzel­len im Gehirn mehr Energie. Begründen lässt sich das mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Der Verstand wie auch das biologische System streben nach Stimmigkeit. Biologisch bedeutet das, die Zellen eines Körpers (bspw. die Nervenzellen im Gehirn) ge­stalten ihre Beziehung zueinander so lange immer wie­der um, bis ein möglichst kohärenter Zustand erreicht wird, welcher ihr Funktionieren mit einem Minimum an Energie ermöglicht.

Kohärenz wird dann erreicht, wenn die eigenen Bedürf­nisse innerhalb der jeweiligen Lebenswelt mit den dort von außen kommenden Anforderungen in Einklang ge­bracht werden. Schauen wir mit diesem Prinzip auf das Erleben von Arbeit, so erscheinen Organisationskultu­ren, in der der Einzelne lediglich in seiner Rolle gesehen wird, überaus kritisch. Pointiert formuliert degradieren solche Kulturen das Individuum zum Objekt. Somit ent­steht ein (bewusst oder unbewusst wahrgenommener) Zustand, in dem Bedürfnisse nach Autonomie und Ge­meinschaft keine Erfüllung finden. Fehlt so die innere Kohärenz, wird der Einzelne seine Energie und seine Potenziale nicht im Sinne der Organisation einsetzen können – er bleibt mit sich selbst (dem Problem seiner ungestillten Bedürfnisse) beschäftigt.

Aus der Psychologie wissen wir: Menschen haben Bedürfnisse und streben danach, diese zu stillen.

Ein gemeinsam geteilter Purpose wiederum hat das Potenzial, Kohärenz zu erzeugen und die Entwicklungs­dynamik des Systems auf dieses gemeinsame Anliegen auszurichten. Falls dies nicht der Fall ist, müssen die Individuen einer Gemeinschaft so wie die Nervenzellen im Gehirn ihre Beziehung zueinander so lange immer wieder neu umgestalten, bis sie einen Zustand erreicht haben, wo zur Aufrechterhaltung ihres Überlebens und ihrer Arbeitsweise als Ganzes ein Minimum an Energie verbraucht wird. Gelingt das nicht, wird zu viel Energie verbraucht und das betreffende System läuft Gefahr zu zerfallen.

Gerald Hüther
www.gerald-huether.de © michael liebert

Was bedeuten diese Erkenntnisse der Neurobiologie nun für die Führung von Organisationen?
Damit die Potenziale des Einzelnen sich in und zum Wohle von Organisationen entfalten können, braucht es eine Kultur des Miteinanders. Eine Kultur, die den Ein­zelnen in seiner Besonderheit wertschätzt, Vertrauen schafft und die das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Autonomie auf der einen und einem Gefühl von Ver­bundenheit auf der anderen Seite produktiv gestaltet. Damit sich eine solche Kultur im Sinne des großen Gan­zen produktiv entfalten kann, braucht es aber ein zwei­tes Element, das Energie entfacht und ausrichtet: einen inspirierenden Purpose, der als geteiltes Anliegen die Organisationsmitglieder gemeinschaftlich zusammen­führt. Doch wie muss ein solcher Purpose gestaltet sein, damit er die Entfaltung der in jedem Mitarbeiter wie auch der Gesamtorganisation angelegten Potenzia­le ermöglichen kann?

Die Neurobiologie zeigt auch: Wir streben als Menschen nach Kohärenz, nach Stimmigkeit.

Aus unseren Forschungen an der Handelshochschule Leipzig wissen wir, dass Menschen das Handeln von Or­ganisationen dann als sinnvoll erleben, wenn Organisa­tionen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Einen Beitrag, der einen positiven Effekt über die Grenzen der Organisation hinaus leistet. Wir sprechen dabei vom Ge-meinwohlbeitrag oder dem Public Value einer Organisa­tion. Dadurch wird deutlich, dass bspw. ein Purpose, der die reine Profitmaximierung in den Fokus nimmt, wenig Kraft in sich trägt, eine potenzialentfaltende Wirkung zu erzielen. Es braucht vielmehr die Einbettung des Einzelnen und der Organisation in das übergeordnete gesellschaftliche Gefüge, es braucht die Zuwendung zum gesellschaftlichen Beitrag.

Dabei ist ein solcher Purpose ein inhärenter Teil des Unternehmens, welcher als ein von allen geteilter Kom­pass für das Handeln aller dient – unabhängig von der hierarchischen Position im Unternehmen. Auch des­halb ist der Purpose einer Organisation in dem Leipziger Führungsmodell der Handelshochschule das zentrale Element. In einer globalisierten und digitalisierten Welt, die von Beschleunigung, Komplexität und Unsicherheit gekennzeichnet ist, greifen alte Management-Konzep­te nicht mehr oder erweisen sich zunehmend als ineffi­zient. Wo langfristige Zielsysteme und das Kaskadieren von 10- oder auch nur 5-Jahresplänen immer sinnloser werden, dient der Purpose einer Organisation als innere Richtschnur in ungewissen Zeiten. Was moderne Kon­zepte von Organisation eint, die unter Schlagworten von New Work, Empowerment oder Intrapreneurship diskutiert werden, ist eine einheitliche Voraussetzung: Damit jeder Einzelne sein volles Potenzial in Organisa­tionen entfalten kann, braucht es ein miteinander ge­teiltes Verständnis darüber, was Maßstab und Antrieb des Handelns ist. Dabei hat ein Purpose das Potenzial, auf verschiedenen Ebenen positiv zu wirken: Neben den funktionalen Effekten auf der Ebene der Organisa­tion unterstützt er die einzelnen Akteure dabei, ihr Han­deln an einem gemeinsamen Beitrag auszurichten und damit einen kohärenten Zustand zu erreichen. Damit wird eine Kernaufgabe von Führung deutlich: Der Purpose einer Organisation lässt sich zwar lebhaft und intensiv im Boardroom diskutieren, doch sichert auch eine noch so große Einigkeit im Top-Management-Team nicht, dass der Purpose auch in gleichem Maße von allen Organisationsmitgliedern verstanden und geteilt wird. Unsere Arbeit mit Organisationen zeigt, dass es vielmehr eine dauerhafte Anforderungen an Unternehmen und ihre Führung ist, den Purpose in der Kommunikation herauszustellen und – damit diese Kommunikation nicht zur leeren Hülle verkommt – den Gemeinwohlbeitrag als ein Maßstab für Entscheidungen und Handlungen transparent zu berücksichtigen. Die vornehmliche Aufgabe von Führung ist es also, eine Kultur zu schaffen, in der sich der Einzelne eingeladen fühlt, zum großen Ganzen beizutragen. Eine Kultur, die den Organizational Purpose zum gemeinsamen Anlie­gen werden lässt. Eine Kultur, in der niemand den an­deren zum Objekt seiner Bewertung und Maßnahmen macht. Eine Kultur, in dem sich der Einzelne als Indivi­duum gesehen und wertgeschätzt fühlt.

Wie kann dies gelingen? Unsere ehrliche Antwort: Wir können es nicht genau sagen und wir gehen auch da­von aus, dass es in einer volatilen, komplexen und plu­ralistischen Welt keine Rezept-Antworten geben kann, die im Sinne einer Best-Practice für alle Organisationen gleichermaßen Gültigkeit haben. Wir glauben jedoch, dass die richtigen Fragen dazu führen, dass Organisa­tionen ihre eigenen, passenden Antworten entwickeln. Richtige Fragen sind für uns diejenigen, die sich mit dem Beitrag, den Potenzialen und der Gemeinschaft beschäftigen.

Textfeld:  Führungskräfte haben eine besondere Verantwortung für ihre Organisationen. Um eigene Antworten zu fin­den, braucht es die Auseinandersetzung mit diesen relevanten Fragen. Dieser Beitrag ist als Einladung für Führungskräfte zu verstehen, um sich mit der Frage von Purpose, Potenzial und Gemeinschaft für die eige­ne Organisation auseinanderzusetzen.

Über die Autoren

Magdalena Wallkamm ist Doktorandin am Witten­berg-Zentrum für Globale Ethik und an der HHL Leip­zig Graduate School of Management. Sie forscht zu Resonanz und Public Value als stabilisierende Fak­toren für Organisationen in der Ungewissheit. Als Coachin und Organisationsentwicklerin bei The Good Point begleitet sie Organisationen und Führungs­kräfte in Veränderungsprozessen.

Julian Brands ist Coach und Berater bei der HPO Research & Consulting Group und unterstützt Orga­nisationen und Führungskräfte in der Entwicklung ihrer persönlichen und gemeinschaftlichen Poten­ziale. Er ist Doktorand am Lehrstuhl für Wirtschafts­psychologie und Führung an der Handelshochschule Leipzig und forscht zum Thema des Organizational Purpose.Dr. rer nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther ist Neuro-biologe und seit 2015 Vorstand der Akademie für Po­tenzialentfaltung. Er ist Autor zahlreicher Bestseller darunter „Biologie der Angst“ und „Würde – Was uns stark macht als Einzelne und als Gesellschaft“. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissen­schaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis.

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